Wir gehen von den Körpern zum Unkörperlichen über,
indem wir dem Grenzverlauf folgen,
indem wir über die Oberfläche entlanggleiten.
Gilles Deleuze
Das Selbst und die Persona
Die Erinnerungen und das Gedächtnis bilden die Grundlage von tiefverwurzelten Überzeugungen, was die eigene Person anbelangt. Durch die vielzähligen Möglichkeiten der Wahrnehmung definieren sie die Vorstellung vom Selbst.
Das absolute Selbst befindet sich jedoch unter der Oberfläche im Unbewussten. In der Tagwelt wird eine bestimmte Energie eingesetzt, um die Vorstellung vom Selbst aufrecht zu erhalten. Die Möglichkeiten der Wahrnehmung werden von einer sozialen Ordnung definiert und verdeckt. Die Auseinandersetzung mit dem Schatten der Persönlichkeit ist ein unabdingbarer Schritt auf dem Weg zur Ganzwerdung – zur Individuation der Persönlichkeit.
Carl Gustav Jung bezeichnete den Teil des Ich, der für ein normatives, sozialverträgliches Verhalten des Individuums sorgt als Persona. Die Persona war eine im griechischen Theater verwendete Maske, die die Rolle typisierte. Jung behauptete, dass das Ich sterbe, sollte die Persona zu stark werden.
Die Oberfläche dieser Maske hat anscheinend ein Innehalten der Persönlichkeit als Unbeweglichkeit zur Folge, was letztendlich zur Erstickung des Unbewussten und somit des Selbst führen kann.
Das reine Werden
Ein einfaches Beispiel dafür ist Lewis Carolls ‚Alice im Wunderland‘. Wenn man sagt: ‚Alice wächst‘, bedeutet dies, dass sie größer wird als sie war. Doch eben dadurch wird sie auch kleiner als sie jetzt ist. Sie ist nicht zur gleichen Zeit größer und kleiner, es ist aber die gleiche Zeit in der sie es wird. Sie ist jetzt größer und sie war zuvor kleiner. Darin besteht die Gleichzeitigkeit des Werdens, dessen Eigenheit es ist, sich dem Gegenwärtigen zu entziehen. Es gehört zu dem Wesen des Werdens in beide Richtungen gleichzeitig zu verlaufen. Ein Werden, dessen Gegenwart sich endlos in Vergangenheit und Zukunft teilt. Das Paradox dieses reinen Werdens mit seiner Fähigkeit, dem Gegenwärtigen auszuweichen, besteht in der unendlichen Identität beider Sinn-Richtungen zugleich. Es bedeutet sich der begrenzten Persona, der Unbeweglichkeit und auch dem Gegenwärtigen zu entziehen.
‚Wie herum? Wie herum?‘
fragt Alice, ahnend, dass es stets gleichzeitig in beide Richtungen geht.
Kontinuität des Drinnen und Draussen
Platon forderte uns auf, zwei Dimensionen zu unterscheiden:
Jene der begrenzten und mit Maß versehenen Dinge, der feststehenden Qualitäten, seien sie nun dauerhafte oder vorübergehende, die aber immer ein Innehalten als Unbeweglichkeit vorraussetzen, Feststellungen von Gegenwärtigem, Bestimmungen von Subjekten.
Und jene eines reinen maßlosen Werdens, eines wirklichen und haltlosen Verrückt-Werdens, das in beide Richtungen gleichzeitig verläuft, sich stets dem Gegenwärtigen entzieht und Künftiges und Vergangenes, das Mehr und das Weniger, das Zuviel und das Nicht-Genug in der Gleichzeitigkeit einer unlenksamen Materie zusammenfallen lässt.
Tagwelt und Traumzustand
Tagwelt und Traumzustand sind zwei gleichzeitige Dimensionen, die sich an der Grenze begegnen, an der sie unablässig entlanglaufen.
Den Übergang vom Wirklichen zum Traum und vom Körper zum Unkörperlichen erreicht man durch das Gleiten längs der Oberfläche der Grenze, wie bei einem Möbiusschem Band gelangt man auf die andere Seite.
Die Unergründlichkeit der Gegenwart bildet die Grenze zwischen Vergangenem und Zukünftigem, ähnlich dem Übergang vom Wachzustand in den Schlaf, an welchem eine Art Verschiebung der Wahrnehmung stattfindet, eine Art zittern, und derjenige, der auf der Grenze sitzt, hat beide Dimensionen zur Verfügung.
Hinter den Spiegel zu gehen, also zu träumen, heißt, auf ein Gebiet zu gelangen, auf dem die Sprache in keiner Beziehung zum Bezeichneten mehr steht, sondern nur noch zum Ausgedrückten, d.h. sie geht nun ins Innere über.
Der Traum
Im Traum löst sich die Persona automatisch auf; die Schatten der Persönlichkeit und das Unbewusste Selbst treten an die Oberfläche der Wahrnehmung; Vergangenheit und Zukunft formen die nicht greifbare Gegenwart des Traums.
Es ist dabei nicht von Bedeutung, ob der beschriebene Grenzzustand der Wahrnehmungsverschiebung durch einen Traum bzw. einen bestimmten Traum, wie z.B. Klartraum, Wachtraum oder Wahrtraum hervorgerufen wird, sondern durch das bloße Gleiten an der Oberfläche erreicht man die Umkehrung des Unbewussten ins Bewusste, da die andere Seite nur die umgekehrte Richtung ist.
Das Bild im Traum ist nie fixiert, es fließt am geistigen Auge vorbei. Ein bewusster Versuch das Bild zu fixieren, würde zum sofortigen Aufwachen führen. Die Substantive und Adjektive beginnen sich zu verflüssigen, die Namen der Stillstände und Ruhepunkte werden von den Verben des reinen Werdens mitgerissen.